Sagen rund um Erfurt

Inhaltsverzeichnis

Der redende Rabe

In der Mitte des 17. Jahrhunderts hat ein Bürger zu Erfurt einen Raben in seinem Hause auferzogen, denselben sieht der Hausherr eine Zeit lang stillschweigend und traurig stehen, er spricht also scherzweise zu ihm: »Mein Rabe, was trauerst Du oder was denkst Du bei Dir?« Darauf hat der Rabe über alle Hoffnung und Zuversicht gar deutlich diesen Vers aus dem 77. Psalm Davids recitirt und hergesagt: »Ich gedenke der vorigen Jahre und der künftigen Ewigkeit.« Da hat der Teufel ohne Zweifel aus diesem Raben geredet.

Die wandelnde Leiche

Es war zur Zeit Luthers zu Erfurt ein junger Student, welcher sich in eine Jungfrau heftig verliebt hatte. Derselbe zog einen seiner Kameraden, der die Zauberkunst verstand, zu Rathe, und dieser versprach ihm, wenn er sich dieselbe zu umarmen enthalten wolle, dann werde er es durch seine Kunst zu Wege bringen, daß die geliebte Jungfrau vor ihm erscheinen werde. Der Andere versprach ihm auch solches zu tun. Hierauf kommt die Jungfrau auch wirklich in die Kammer des Studenten und stellt sich gegen ihn sehr liebreich und freundlich. Als sie ihr Liebhaber sah, war er alsbald vor Freuden gleichsam ganz außer sich, und weil er sich nicht enthalten konnte, umfing er seine Geliebte mit seinen Armen. Dieselbe fiel aber alsbald vor ihm tot zur Erde nieder, worüber er sowohl als der mit anwesende Zauberer gar höchlich erschracken. Endlich hat der Letztere durch seine Kunst es zu Stande gebracht, daß der Teufel diesen Leichnam wieder zu bewegen auf sich nahm, und vermittelst dessen Hilfe ist sie nach Hause und wieder zu ihrer gewöhnlichen Arbeit gegangen, hat aber eine sehr tötliche und bleiche Farbe behalten, auch kein Wort mehr geredet. Als dies drei Tage gedauert, haben die Eltern des Mädchens etliche Geistliche zu sich entboten. Da dieselben nun die Jungfrau ernstlich anredeten, ist der Satan aus dem Leichnam gewichen und letzterer tot und stinkend hingefallen.

Die weiße Jungfrau

Am 15. März des Jahres 1677 und folgende Tage ließ sich ein Mägdlein zu Erfurt sehen, so man ohngefähr zehn Jahre alt geschätzt. Ihre Haare waren in Zöpfe geflochten, sie hatte ein weißes Kleid an und sah im Gesicht blaß aus. Sie ging durch die Alacher und Bintersleber Felder, redete mit sich selbst, allein es konnte sie Niemand verstehen. In der Hand hatte sie ein braunrothes Stäblein und schlug damit, indem sie durch’s Getreide oder über die Wiesen ging, die Blumen ab, also daß man solche an allen Orten daselbst herumliegen sah. Wollte ihr Jemand nach oder entgegen gehen, so kam ihm ein gewaltiges Grausen an, daß er zurückweichen mußte. Diese Begebenheit wurde dazumal von etlichen Personen eidlich in der Vogtei ausgesagt, das Mädchen ist aber nachmals nicht mehr gesehen worden.

 Warum die Erfurter Heringsnasen heißen

Um das Jahr 1579 ist in Erfurt eine böse Gewohnheit unter dem Pöbel eingerissen; es sind nämlich einige leichtfertige Buben meistentheils gegen Abend auf der sogenannten Cavate (welches der steinerne auf Gewölbe gesetzte Gang ist, der das Thor der Stiftskirche zu St. Marien umgiebt) zusammengekommen, haben dort entsetztlich getobt, mit einander gerungen, geschrieen und mit Steinen von oben herab auf den Markt, auch wohl in die unten gelegenen Häuser der Canonici geworfen und dergleichen Unfug bis spät in die Nacht getrieben. Diesem nun vorzubeugen, ließen die Stiftsherren die Stufen, worauf man zur Kirche geht, mit einem Tor verschließen. Hierauf versammelte sich ein großer Haufen Volkes, welches die Bosheit antrieb, ihren Unfug noch weiter fortzusetzen; sie bestürmten das Thor, zerschlugen und zertrümmerten Alles in kleine Stücke, und eröffneten sich also mit Gewalt den Weg zu ihrem vorigen Tummelplatze. Bei diesem Lärmen kam ein Zimmermann, der lange Werner genannt, welcher an das annoch liegen gebliebene Zwerchholz oder Balken einen Hering mit einem Kranz und Reuchelbusch von Nelken hing, worauf der Pöbel aussprengte, es hätte sich ein Jesuit auf der Cavate erhängt. Von dieser Zeit an nannte man die Jesuiten zu Erfurt Heringe oder Heringsnasen, welcher Name aber nachmals allen Erfurtern beigelegt worden ist.

Die tanzenden Kinder

Im Jahre 1257 hat sich eine wunderbare Begebenheit in der Stadt Erfurt zugetragen. Es haben sich nämlich daselbst über 1000 Kinder versammelt, die sind alle zusammen mit Tanzen und Singen zur Stadt hinaus durch’s Löber-Thor über den Steiger Weg und bis Arnstadt gezogen, wo sie die Bürger aufgenommen haben. Die zu Erfurt aber wußten nicht, wo ihre Kinder hin waren, bis es die von Arnstadt ihnen berichteten, worauf sie denn dieselben mit Wagen wieder abholten. Niemand aber konnte erfahren, wer sie eigentlich hinweggeführt hatte.

Die Brunnenkirche (Brunnenskapelle)

Im Jahre 1249 hat sich zu Erfurt folgende merkwürdige Begebenheit zugetragen. Es find zwei leichtfertige Vögel mit einander einig geworden, nächtlicher Weile in die Kirche St. Martini intra (die vor diesem an dem langen Stege, der Prediger-Kirche gegenüber stand, nach dem 1736 erfolgten Brande aber gänzlich abgebrochen ward) einzubrechen und haben dieses Vorhaben auch am Abend vor Mariä Verkündigung ins Werk gesetzt. Sie erbrachen den Tabernakel und nahmen daraus das Ciborium, worin 9 consecrirte Hostien lagen, und gingen damit fort. Wie sie auf den Roßmarkt kamen, schütteten sie die consecrirten Hostien in eine Pfütze, das Ciborium aber nahmen sie mit nach Eisenach. Nach einiger Zeit wurde einer von diesen Diebesgesellen krank, und weil es mit ihm zum Sterben kam, so schickte er nach einem Beichtvater und offenbarte demselben in der Beichte unter andern auch diesen Diebstahl und wie er die consecrirten Hostien in eine Pfütze geworfen. Der Beichtvater absolvirte ihn und zwar weil er im Todeskampf begriffen war, begab sich aber bald darauf nach Erfurt und zeigte die Sache an. Nun hatte aber vorher ein dort wohnender Geistlicher zuweilen ein Lichtlein bei dieser Pfütze, wohin die consecrirten Hostien geworfen worden waren, gesehen. Daher ward dies dem damals in Erfurt sich befindenden Erzbischof Christian II. angezeigt. Dieser ging mit der sämmtlichen Klerisei dahin, hob das Sacrament, welches noch ganz unverletzt dalag, auf und brachte es unter dem Gesang: »Christus nobis apparuit, venite adoremus,« in die Stiftskirche zu St. Marien, allwo es beigesetzt ward. Ulrich Vierding aber baute an dem Orte, wo die consecrirten Hostien gelegen, eine Kirche, welche noch jetzt steht und die Kapelle zum heil. Brunnen genannt wird. In dieser Kirche ist aber die Geschichte abgemalt und man liest darunter folgende Verse:

Man schreibt tausend zweyhundert Jahr

Und neun und viertzig, das ist wahr,

Da diß Sacrament gestohlen ist,

Als die Legende meldet diß.

Ueber fünff Monat es geschach,

Daß ein Dieb kam gen Eisenach,

In seiner Beicht hat’s offenbahrt,

Daß diß Sacrament funden ward.

Hier funden sie den wahren Gott

In der Gestalt des Himmels-Brod.

Aus Freuden sprachen sie all süß

Nunc venite adoremus.

In Gott Vater Bischoff zu Maintz

Erhoben hat diß Sacrament

In neun Particuln aus dem Born,

Da sonst alle Wasser waren gefrohrn.

Vom Erfurter Bier

In der Stadt Erfurt ist dereinst ein Bier gebraut worden, welches in ganz Thüringen berühmt gewesen ist, also daß Herr Johann Philipp Eyfel am 17. (27.) Mai des Jahres 1689 eine öffentliche Dissertatio circularis medica de cerevisia Erfurtensi gehalten, so auch im Druck erschienen ist. Einen besondern Namen hat es jedoch nicht gehabt und ist späterhin von einem andern leichtern verdrängt worden. Doch hat man dort auch den Breyhan gebraut, ein aus Gerste gemachtes Getränk, so seinen Namen von Conrad Breyhan hatte, der es zu Stöcken, einem bei Hannover gelegenen Dorfe, im Jahre 1526 erfand. Von diesem Biere giebt es einen Spruch, der so lautet:

Grandia si summo fierent convivia coelo, Breyhanam superis Jupiter ipse daret. (Wenn im hohen Himmel einst ein Gastmahl veranstaltet würde, würde Jupiter selbst den Göttern Breyhan vorsetzen.)

Der Wolfram im Dom (Wolframleuchter)

Im Dome zu Erfurt steht mitten im Chore ein Mann in Knabengröße von gegossenem Messing. Er stellt einen Priester vor, der seine Arme ausbreitet. In jeder Hand trägt er einen Leuchter und eine Spitze aus seinem Stecken dient ebenfalls, ein Licht darauf zu stecken. Man nennt ihn gewöhnlich den Wolfram, denn in seinem Gürtel ist der Länge nach folgende Inschrift eingegraben: »Wolframus Hilderich. ora pro nobis sanctae Dei genitrix, ut Dignus efficiatur gratiae Dei« (Wolfram Hilderich. Bitte für uns, heilige Mutter Gottes, auf daß er der Gnade Gottes würdig werde). Aus dieser Inschrift läßt sich muthmaßen, daß dieser Kandelaber von irgend Jemandem hierher verehrt wurde, Vergebung seiner Sünden zu erlangen, wegen welcher er vermutlich in Bann getan worden war. Wahrscheinlich soll dies die Stellung des Mannes mit den Lichtern in der Hand anzeigen, denn es war gewöhnlich, daß Büßende im langen Kittel mit einer Kerze in der Hand vor die Kirchtüren traten und die eingehenden Christen bitten mußten, für sie zu beten. Das Volk erzählt sich auch hierüber folgende Sage.

Ein junger Patricier, Namens Wolfram, beging ein großes Verbrechen, das gegen die Kirchenzucht verstieß und sogar nach Rom berichtet ward, wo der Papst folgendes Urtheil über den Sündigen sprach: Es solle Wolfram ein ganzes Jahr lang täglich in jeder Hand einen Leuchter mit brennender Kerze haltend dem Hochaltar gegenüber treten, so lange die Messe daure. Zwar unterzog sich der Patricier dieser harten Buße, allein die Schmach einer täglichen Kirchenstrafe und die Last der Leuchter drückten ihn zu Boden, er wurde so schwach, daß er sich nicht mehr aufrecht erhalten konnte. So wurde er denn seiner Buße entlassen, er mußte aber dies metallene Bild anfertigen lassen und hat dann seine Tage als Mönch in einem strengen Büßerorden beschlossen.

Das Kruzifix im Dom

Im Dom zu Erfurt befindet sich ein kolossales Gemälde auf der Wandfläche, der Kanzel gegenüber, den großen Christoph darstellend, gleich neben demselben aber ein großes ebenfalls kolossales Crucifix, das wider die Gewohnheit der Vesperbilder bekleidet ist. Es rührt aus jener Zeit her, wo man es für unanständig hielt, den Heiland nackend in den Kirchen darzustellen. Nach der Volkssage ist es aber gar kein Christusbild, sondern vielmehr die heilige Wilgefortis, die nach der Legende einen heidnischen Mann nehmen sollte und von ihrem eigenen Vater gekreuzigt ward, weil ihr Gott auf ihr inständiges Bitten in einer Nacht einen Bart wachsen ließ. Ob er sie im Uebrigen auch in einen Mann verwandelt hat, davon sagt die Legende nichts.

Der Walperzug

Der Walper- oder Walpurgiszug zu Erfurt war ehedem ein großes Fest, welches drei Tage dauerte und hauptsächlich in einem feierlichen Zuge mit Fahne nach der sogenannten Wegweide, einem Gehölze im fürstlich Mainzschen Gebiete, bestand. Die Bürger hatten das Recht, am Tage Walpurgis daselbst vier Eichen zu fällen, ihren vier Rathsmeistern zu Ehren. Die Ursache des Zuges war folgende.

Es lag auf der Kuhweide ein festes Schloß, wo sich Räuber aufhielten. Nun war ein Fleischer aus der Stadt verwiesen, der kam von ohngefähr im Felde zu ihnen, den nahmen sie als Koch mit sich in das Schloß, wohin sie durch verborgene Wege unter der Erde kamen. Da nun nach einiger Zeit die Räuber ihrer Gewohnheit nach auf weißen Pferden ausgeritten waren und den Schlüssel einer alten Frau anvertraut hatten, so bat er dieselbe, daß sie ihn nur auf eine kleine Zeit wolle spazieren gehen lassen. Nachdem er die Erlaubniß erhielt, lief er in Eile der Stadt zu, verlangte, daß vom Rathe Jemand heraus zu ihm geschickt werden möchte, dem wolle er eine große Heimlichkeit offenbaren, und als Einige zu ihm kamen, so versprach er, wenn sie ihn als einen ehrlichen Bürger wieder aufnehmen wollten, so wolle er ihnen dann das Schloß ohne Mühe in die Hände liefern. Als sie ihm dies versprachen, so sagte er ferner, wie sie zu einer gewissen Stunde, die er ihnen schon offenbaren wolle, wenn die Räuber auf Beute ausgeritten wären, auf weißen Pferden vor das Schloß geritten kommen möchten, damit die andern dächten, ihre Kameraden kämen wieder zurück, dann wolle er sich des Schlüssels bemächtigen und ihnen das Thor aufmachen. Dieses verlief Alles genau so, wie ausgemacht war, die Räuber wurden gefangen genommen und als am andern Tage die Weggerittenen auch wieder kamen, welche von dem, was geschehen war, nichts wußten, also ganz unbesorgt zum Schlosse hinaufritten, so wurden auch diese alsbald gefangen und ihnen ihr Recht angetan, das Schloß aber gänzlich zerstört.

Nach einer andern Erzählung wäre jenes Schloß die Burg Dienstberg gewesen und hätten sie die Erfurter am 15. Mai des Jahres 1289, angeführt vom Kaiser Rudolph selbst, zerstört; es habe aber die Edelfrau darin ihre zwei jungen Söhne mit allem ihren Geschmeide behangen, sei herausgekommen und habe dem Kaiser einen Fußfall getan und um ihrer Kinder Leben gebeten. Dies sei ihr auch gewährt und sie auf Pferden nach Erfurt gebracht worden. Bei dieser Eroberung habe man ein Lied gemacht: »Eichen ohne Gerten (eichene Prügel haben sie gehauen und Gerten davon gemacht, mit welchen sie die Räuber totschlugen), wir kamen vor ein Thälelein, Thälelein, rothe Rosen Blätterlein (sie kamen vor ein Thal, da stunden rothe Röschen), steht still, steht still auf dieser Stadt, wollen wir aber singen, gebt was ihr habt, Prügel her.« Das sangen die Jungen zu Erfurt noch im vorigen Jahrhundert am St. Johannisabend. Darum pflegte man bei dem zum Gedächtniß an die Begebenheit gestifteten Walperzuge zwei Knaben mit güldenen Ketten und Geschmeiden aufzuputzen und sie zu Pferde mit in die Stadt einzuführen. Weil aber die Erfurter Bürger vor jener Fehde auf die Wegeweide in jenes Schloß Dienstberg zu Biere zu gehen pflegten, wie sie später dann nach Taberstadt gingen, wurden bei jenem Zuge stets zwei Krüge voll Bier mit in die Wegeweide getragen.

Der zärtliche Wolf

Im Jahre 1555 trieb sich im Sommer etliche Wochen lang ein Wolf im Weichbild von Erfurt herum, der lief den Leuten nach, umarmte, herzte und drückte sie, namentlich die Weibspersonen, that ihnen aber sonst kein Leid an und biß Niemand. Wenn er aber so eine oder die andere umschlungen hielt und den Rachen aufriß, der von ungeheurer Größe war, erschracken sie so, daß sie fast den Tod davon hatten.

Der wunderbare Juwelenladen

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war im Dorfe Mühlberg bei Erfurt ein gewisser Quehl geistlicher Inspector. Derselbe hatte eine Ehefrau, die in ihrer Jugend zu Erfurt in dem Hause eines sogenannten Biereigen erzogen ward. Dieselbe ging eines Nachts um 11 Uhr in den Keller. Als sie in denselben kommt, wird sie mit Erstaunen gewahr, daß darin eine kleine Bude aufgebaut und mit den kostbarsten Juwelen, auch allerhand Gold- und Silberwerk ausgeziert steht. Vor selbiger hat sich eine Weibsperson geschäftig gezeigt und solche Kostbarkeiten ordentlich ausgelegt. Dann ist selbige auf sie losgekommen und hat sie umarmen wollen und dabei verschiedenes Geschmeide in den Händen gehabt. Man kann sich leicht denken, daß die nachherige Frau Inspectorin hierüber gewaltig erschrocken ist. Daher hat sie sich, als sie der Geist anfassen wollte, mit einem lauten Geschrei dergestalt zurückgebogen, daß ihr das Halstuch, so sie getragen, vom Halse gefallen. Sobald sie aber den lauten Schrei getan, ist Alles verschwunden und sie hat sich in aller Eile aus dem Keller geflüchtet, auch das Halstuch im Stich gelassen. Des andern Tages, als sie wieder in den Keller kommt, findet sie ihr Halstuch noch auf der Erde liegen, und als sie solches aufhebt, findet sie darunter eine vortreffliche goldene Panzerkette. Sie hebt solche auf und hat dieselbe die ganze Zeit ihres Lebens behalten und aufbewahrt, auch diese Geschichte vielen vornehmen und geringen Personen erzählt.

Das Rathaus

Erfurt, jetzt nur die Hauptstadt eines Regierungsbezirks, war es sonst von ganz Thüringen und nicht nur im deutschen Reiche, sondern auch im Auslande berühmt wegen seiner Türme und ihrer großen Glocke Maria Gloriosa, 270 oder 276 Ctr. schwer, 1/4 Elle dick, 15 Ellen im Umfang und 41/2 Elle hoch, die weithin durch die Gebirge und Ebenen des fruchtreichen Thüringens tönte. Nach und nach hat aber die Zeit auch hier zahlreiche Veränderungen hervorgebracht, nur der ehrwürdige alte Dom und das Rathhaus behaupteten ihren alten Standort und ihre alterthümliche Gestalt. Letzteres schützte die alte Rolandssäule, die vor ihm mit Schwert und Fahne stand, um anzudeuten, daß hier Gerechtigkeit Gericht halte, und zu zeigen, woher der Wind wehe. In neuerer Zeit sollte jedoch das Rathhaus durch ein neues ersetzt werden; nachdem die Mauern des alten niedergerissen und damit auch die alten Wappenschilder der Patricier, die eroberten Fahnen und Paniere, sowie die alte Armbrust, welche nur sechs Mann spannen konnten, verschwunden waren, da erzählte sich das Volk, in mondhellen Nächten erscheinen die Geister der alten Räthe im Schmuck ihrer Amtswürde, setzten sich auf die Bank um den alten Roland her, schüttelten die greisen Locken ohne einen Laut zu sagen, wenn aber vom Turme die erste Stunde nach Mitternacht ertöne, lasse der Roland seine Fahne knarren und die Geister verschwinden.

Laudo patronos, cano Gloriosa

Fulgur arceo et Daemones malignos

Sacra templis a populo sonanda carmine pulso.

Gerhardus Juon de Cempis me fecit Anno Dom. 1497.

Die andere obengenannte Glocke heißt eigentlich Maria Clara Susanna. Auf ihr steht folgender Reim: »Die große Susanna treibt die Teufel von danna.«

Doktor Fausts Gasse

Gegen die Mitte der Schlössergasse zu Erfurt geht ein Gäßchen zwischen Häusern durch, so schmal, daß ein Dicker nicht durch kann; das ist Doktor Fausts Gäßchen, und da hindurch fuhr Faustus, als er in Erfurt war, mit einem ganzen Fuder Heu. Er wohnte in der Michaelsgasse, nahe dem großen Kollegium, darin er selbst Kollegia las, den Studenten den Homer erklärte und die Geister homerischer Helden ihnen vor Augen stellte und zuletzt den greulichen Riesen Polyphemus, vor dem alle erschrocken und davongelaufen. In der Schlössergasse wohnte ein edler Junker, der war Fausti Freund, und waren oft beisammen; das Haus ist durch einen Anker auf dem Dachgiebel kenntlich, da gab Faustus manche Gasterei, zapfte Wein aus dem Tisch, ritt durchs Dach in die Luft und ließ ein Loch im Dach, das sich niemals wieder mit Ziegeln hat zulegen lassen. Bald sprach Stadt und Land von niemand als vom Doktor Faust, der Adel kam aus der Nachbarschaft in die Stadt herein, den Wundermann und seine Künste zu sehen, und da entstand die Furcht, es möchten allzu viele sich zu Teufelskünsten verlocken lassen, und ward ein Mönch zu Faustum gesandt, der sollte ihn bekehren. Faustus wollte aber nicht bekehrt sein, und auf das Erbieten des Mönchs, ihn durch Messelesen und Gebet vom Teufel loszureißen, hat Doktor Faust erwidert: Nein, mein guter Doktor Klinge! Es würde mir sehr unrühmlich sein, meinen mit meinem Blute geschriebenen Vertrag zu brechen, das wäre nicht redlich. Der Teufel hat mir ehrlich gehalten, was er mir zugesagt, so will ich ihm auch mein Wort halten. – Ei, so fahre hin zum Teufel, du verfluchter Teufelsbraten und Teufelsbündner! schrie da zornig der Mönch; fahre hin in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! – und rannte fort zum Rektor magnificus und zeigte dem an, Faustus sei ein ganz verstockter unverbesserlicher Sünder. Darauf ist der Doktor Faustus aus der guten Stadt Erfurt ausgewiesen worden als ein gar schlimmer Literatus.

Das Sibyllentürmchen

Unter der Feste Cyriaksburg nahe bei Erfurt, links an der alten Fahrstraße nach Gotha, steht ein großer steinerner Bildstock mit altgotischer Zier und erhabener Steinhauerarbeit, der wird das Sibyllentürmchen genannt. Mehr als eine Sage wird davon erzählt, doch ist die nachstehende die am meisten bekannte. Es war ein junger Graf von Gleichen, der liebte eine junge Gräfin von Käfernburg, und der Tag ihrer Verbindung war schon anberaumt und nahe. Sehnsuchtsvoll erwartete ihn sein Lieb, allein er kam nicht. In Begleitung von zwei Knappen war er von seiner Burg herein nach Erfurt geritten, allda Schmuck für seine Braut zu kaufen; ein ihm feindlich gesinnter Schnapphahn aus der Gegend hatte davon Kundschaft erhalten, lauerte dem Grafen mit einigen Mordgesellen unten am Fuße der Cyriaksburg, an deren Stelle damals ein Nonnenkloster stand, und erschlug nach kurzem Kampfe den jungen Grafen samt den beiden Knappen. Da ward groß Trauern und Herzeleid bei der Braut auf der Käfernburg; sie verließ ihre Burg und ihr Erbe, ließ dem Geliebten, der an jener Stelle mit seinen Begleitern begraben ward, ein Kreuz setzen und auch auf jedes Knappengrab ein Kreuz und daneben den großen und hohen Bildstock errichten, nahm den Nonnenschleier im Kloster St. Cyriaki auf dem Berge und ging alltäglich herab zu dem Bildstock, der ihren Namen bis auf die gegenwärtige Zeit brachte, um am Grabe ihres Liebsten zu beten, bis der Tod sie von ihrem stillen Gram erlöste.

Original: Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des preußischen Staates

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