Sagen rund um Görlitz

Inhaltsverzeichnis

Der Ursprung der Stadt

Da wo jetzt die Stadt Görlitz steht, war vor Alters ein Urwald, ein dichter heiliger Eichenhain, wo die deutschen Bewohner des Landes lange vor der Ankunft der Wenden einen Gott, Namens Schwabus verehrt haben sollen. Noch heißt zum Andenken daran eine Gasse der Hainwald und zeigt durch ihre Lage an, daß die heidnische Opferstätte auf dem an der Morgenseite steil gegen die Neisse abfallenden Felsen war, wo sich jetzt die schöne Peterskirche erhebt. Gegenüber am rechten Ufer des Flusses wurden später, als die Slaven die Deutschen verdrängt hatten, drei Kretschame oder Wirthshäuser erbaut, wo die auf der großen Handelsstraße aus Böhmen nach Mittel- und Norddeutschland einherziehenden Reisenden einzukehren pflegten. Nach und nach ward der Wald vom Anbauen immer mehr und mehr gelichtet, in Aecker verwandelt und es entstanden die Dörfer Tachow und Drebnow. Letzteres umfaßte die jetzige Nikolaivorstadt und reichte bis hinauf zur Peterskirche, wo der böhmische Herzog Sobieslaus der Aeltere ein Blockhaus aus Baumstämmen erbaut und mit einer Besatzung versehen hatte, an der Stelle, wo sonst der Voigtshof war und jetzt das Zuchthaus steht. Dieses Dorf, welches bereits zu einem Marktflecken erhoben worden war, sammt der Holzburg brannte im Jahre 1131 ab, da machten sich des Herzogs Leute auf und kamen zu ihm klagend und jammernd und sagten: Zgorzilo je szo Drewno (verbrannt ist uns Dein Drebnow), aber der Herzog hieß sie gutes Muths sein und versprach ihnen, er wolle, ihrer Worte eingedenk, ihnen anstatt der hölzernen Gebäude steinerne aufführen, und so kam er denn auch noch in demselben Jahre in die Lausitz, erneute, vergrößerte und besserte die Stadt, umgab sie mit einer Mauer und nannte sie zum Gedächtniß des Brandes Zgorzelize d.h. Görlitz, Brandstatt.

Die Peterskirche

An der Morgenseite der von dem Slavenapostel Cyrillus im J. 844 erbauten Peterskirche, fast über der äußern Tür der St. Georgenkapelle ist oben unter dem Dache ein in Stein gehauener Mann mit kreuzweis verschränkten Beinen und über sich geschlagenen Händen zu sehen. Dies ist das Bild eines Zimmermanns, der beim Bau der Kirche vom Dache herabfiel, aber mitten im Fallen die Axt, welche er in der Hand hatte, so tief in einen Balken hineintrieb, daß er sich daran halten konnte, bis ihm andere Hilfe kam. An dem der Kirche gegenüberstehenden Eckhause der Peterstraße schaut ein steinerner Mannskopf aus der Mauer hervor, das ist Tetzel der Ablaßkrämer, der in der sogenannten Tetzelkammer, einem kleinen Gemache auf der Mittagsseite der Peterskirche seine Butterbriefe verkauft.

Die Jacobskirche

Zu Anfange des 15. Jhdts. sollte ein angesehener Bürger zu Görlitz, Namens Frenzel, eines begangenen Verbrechens wegen hingerichtet werden. Um nun bei Gott Vergebung für seine Sünden zu erlangen, bestimmte er einen großen Theil seines Vermögens zur Erbauung einer Kirche an der Stelle, wo er seinen Geist werde ausgehaucht haben. Damit nun dies aber nicht auf dem Richtplatze geschähe, weil an diesem verfehmten Orte doch ein Gotteshaus nicht hätte errichtet werden dürfen, so verordnete er, sobald er enthauptet sein würde, solle man den Rumpf mit einem Stück Rasen bedecken, zwei Personen sollten ihn unter die Arme nehmen und soweit fortführen, bis er zusammenbrechen werde. Wie gesagt, so geschehen. Er ward vor dem Frauentore auf dem dasigen freien Platze enthauptet und lief ohne Kopf bis dahin, wo jetzt die Jacobskirche steht, die aus dem von ihm dazu[376] bestimmten Legate erbaut worden ist. Sein übriges Vermögen vermachte er sodann seiner Wittwe zur Errichtung eines Hospitals. Ein in der Sakristei der Kirche aufbewahrter Stein ist aus dem Rasenstücke, welches zur Stillung des Blutes gedient hatte, entstanden, indem derselbe nach und nach versteinerte. Auf einem alten Altartuche ist der von zwei Personen geführte Hingerichtete mit dem Rasen auf dem geköpften Rumpfe in kunstvoller Weberei dargestellt und das Standbild seiner Wittwe mit ihren beiden Kindern auf den Armen steht ebenfalls noch aus Stein gehauen in der Kirche.

Der Bürgermeister und das heilige Grab

Im 15. Jhdt. lebte zu Görlitz ein Bürgermeister, George Emmerich, ein rechtschaffener und gerechter Mann, der aber einen Sohn gleiches Namens besaß, den er in allen ritterlichen Künsten erziehen und große Reisen machen ließ, um sich im Auslande zu bilden und sich zu seiner künftigen Würde (es war nämlich ziemlich gewiß, daß er einst seinem Vater in seiner Würde folgen werde) vorzubereiten. Allein der junge Mann hatte in der Fremde sich auch ein ziemlich lockeres Leben angewöhnt und so machte er sich nach seiner Heimkehr kein Bedenken daraus, eine tugendhafte Jungfrau, Namens Benigna Horschel unter dem Vorgeben, sie ehelichen zu wollen, um ihre Unschuld zu betrügen. Zwar versuchte ihr Vater, ein Tuchmacher, ihn durch Bitten und Vorstellungen zu bewegen, seiner Tochter durch die Ehe ihre Ehre wiederzugeben, allein der stolze Junker dachte nicht daran, eine Handwerkerstochter in das Haus seines Vaters als Schwiegertochter zu bringen und so geschah es, daß in Folge dieser Weigerung Unruhen in Görlitz ausbrachen, indem die sehr zahlreiche Tuchmacherzunft sich der Angelegenheit ihres Mitmeisters annahm und gleichzeitig auch die ohnehin den Patriciern nicht sehr holde Bürgerschaft die Sache soweit trieb, daß der junge Emmerich genöthigt ward, zur Buße seiner unsittlichen Handlung eine Pilgerfahrt nach Jerusalem anzutreten. Dies war nun aber eigentlich keine sehr harte Strafe für ihn, um so mehr, als eine sehr reiche und schöne Wittwe aus Görlitz, Agnete Fingerin, welche sich in den jungen Patricier verliebt hatte, ihm als Mönch verkleidet nachreiste und in dieser Verkleidung seine Reise mitmachte. Emmerich ward in Jerusalem zum Ritter geschlagen und faßte hier bereits den Entschluß, nach seiner Rückkehr dort eine Nachbildung des heiligen Grabes zu erbauen, weil er in der Gegend, wo dasselbe später aufgestellt ward, also an der nordwestlichen Seite der Stadt, da wo die Straße nach Nisky führt, eine merkwürdige Aehnlichkeit mit der Lage der heiligen Stätten zu Jerusalem zu finden wähnte. Nach Görlitz zurückgekehrt, wählte ihn die Bürgerschaft, die seine frühern lockern Streiche vergessen zu haben schien, im Jahre 1483 zum Bürgermeister, nachdem er inzwischen ein zweites Mal nach Jerusalem gereist und dort durch einen mitgenommenen Maler und Baumeister sich genaue Risse von dem h. Grabe hatte anfertigen und dann nach seiner Rückkehr auch wirklich dieses merkwürdige Bauwerk hatte ausführen lassen. Auch jene Agnete Fingerin machte[377] nach ihrer Rückkehr eine Bußstiftung, die in regelmäßigen Brodlieferungen an die Armen bestand, welches Gebäck, Agnetenbrod geheißen, bis zum Jahre 1563, wo man es abschaffte, fortdauerte.

Die Kapelle auf der Galgengasse

Als der eben erwähnte Herr Georg Emmerich von seiner Pilgerreise aus Jerusalem zurückkehrte, sandte er zwei Diener voraus, welche seine Ankunft melden sollten. Einer derselben aber war ein böser Mensch und fiel plötzlich über seinen Kameraden, der die Kostbarkeiten seines Herrn bei sich trug, her, um sich in den Besitz derselben zu setzen. Allein dieser war sehr viel stärker als er und so kam es, daß er selbst die Flucht ergreifen mußte, indeß eilte er spornstreichs nach Görlitz, zeigte dort die Wunden, die er bei jenem Ueberfall bekommen hatte, vor und erzählte, der andere Knecht habe unterwegs Herrn Emmerich erschlagen, um sich dessen Kleinodien anzueignen, er selbst aber, der seinen Herrn habe vertheidigen wollen, sei nur mit Mühe dem Tode entronnen und hierher vorangeeilt, damit der Verbrecher seiner gerechten Strafe nicht entgehen möge. Da sandte der Rath dem andern Knecht Schaarwächter entgegen, die ihn unterwegs gefangen nahmen und nach Görlitz führten. Vor Gericht gestellt, konnte er sich natürlich über den Besitz der bei ihm gefundenen Kostbarkeiten seinem Ankläger gegenüber nicht gut rechtfertigen, man machte also wenig Umstände mit ihm, verurteilte ihn zum Tode und schon am andern Tage führte man ihn unter großem Volkszulauf hinaus zum Nicolaitore auf den Richtplatz.

Unterdessen war aber auch Herr Emmerich in die Nähe von Görlitz gekommen und als er auf der Höhe hinter Reichenbach angelangt war, hörte er plötzlich Glockengeläute. Auf seine Frage an Leute, die ihm aus der Stadt entgegenkamen, erfuhr er, man führe soeben seinen Knecht als seinen angeblichen Mörder zum Galgen; da stieß er seinem Pferde die Sporen in die Seiten und jagte in fieberhafter Hast nach der Stadt zu, an der Stelle aber, wo jetzt die Kapelle steht, brach das halbtotgejagte Pferd unter ihm zusammen, allein einige Vorübergehende hatten in ihm den totgeglaubten Emmerich wiedererkannt und noch in der letzten Stunde gelangte die Nachricht, daß er wieder da sei, zu dem traurigen Zuge. Kaum hatte man aber die Wahrheit erfahren, so mußte auch der falsche Ankläger die Stelle des unschuldigen Delinquenten einnehmen und nach wenigen Augenblicken hing auch er an demselben Galgen, der für letztern bestimmt gewesen war. Emmerich aber ließ eine Kapelle an derselben Stelle errichten, wo ihm das Pferd zusammengestürzt war, die Begebenheit selbst aber auf Leinwand abmalen und das Bild in der Klosterkirche aufhängen, von wo es indeß schon im vorigen Jahrhundert weggekommen ist.

Die Steinbilder in der St. Barbarakapelle

In demjenigen Theile der Klosterkirche zu Görlitz, welche die St. Barbara-Kapelle heißt, sieht man oben an der Decke einen Mann mit Zither und Geige, einen andern mit Harfe und Trommel, eine bekränzte Frau und einen borstigen Mannskopf, dem ein Quarg im Munde steckt. Dies soll eine sonderbare Begebenheit der Vorzeit verewigen, wo nämlich einmal eine lustige Gesellschaft nach der Landskrone unter Spiel und Gesang hinaufzog und ein Mann dabei war, der sich vermaß, er wolle, ehe er den Berg heraufkomme, drei Quärge verschlingen, aber die Wette verlor, indem der dritte ihm im Halse stecken blieb, so daß er ersticken mußte.

Der Mönch und die Verrätergasse

Die heilige Dreifaltigkeitskirche wurde früher wegen des angebauten Franziskanerklosters auch die Mönchskirche und der lange spitze Eckthurm der Mönchsthurm genannt. Noch heute heißt dieser Turm kurzweg der Mönch und wenn die Uhr schlägt, sagen die Leute einfach: »der Mönch schlägt«. Der Mönch schlägt aber immer fünf Minuten vor dem eigentlichen Ablauf der Stunde. Davon wird folgende Begebenheit als Ursache angegeben.

Im Jahre 1527 hatten verschiedene unzufriedene Bürger sich mit einander verschworen, den Rath abzusetzen und zu ermorden und gleichzeitig auch die Stadt anzuzünden. Die Verschworenen versammelten sich in einem Hause auf der Langengasse, in welches sie durch ein Hinterpförtchen traten. Sie kamen spät am Abend dort zusammen und blieben hier so lange bei einander, bis der Nachtwächter seinen Abgesang machte und nach Hause ging. Eines Nachts schlug aber die Mönchsuhr viel zu früh, der Nachtwächter sah jene aus dem Hause kommen und schöpfte Verdacht. Er zeigte, was er gesehen, am nächsten Morgen an, man kam den Verschworenen auf die Spur, machte ihnen den Prozeß und ließ sie auf dem Fischmarkte vor dem jetzigen Stockhause hinrichten. Davon hat das Seitengäßchen, in welches jene Hintertüre hinausging, den Namen die Verräthergasse bekommen; ein Stein aber ist in der Mauer über der Tür befestigt, auf welchem man die Buchstaben D.V.R.T. (der verrätherischen Rotte Thür) und darunter die Jahrzahl 1527 liest. Die Mönchsuhr aber ist zur Erinnerung an diese Begebenheit absichtlich so gestellt worden, daß sie seitdem immer fünf Minuten vorher die Stunde schlägt.

Der Klötzelmönch

In der Fleischergasse zu Görlitz gewahrt man an dem Hause der neuen Apotheke das in Stein gehauene Bild einer Frau, welche gleichsam wie aus einem Fenster aus der Mauer herausschaut, als wolle sie sich nach etwas umsehen. An derselben Wand gegenüber ist aber noch ein zweites Bild, das Gesicht eines häßlichen Mönchs. Mit diesen zwei Köpfen hat es nun aber folgende Bewandniß.

Eines Tages wanderte ein junger Handwerksgesell in die Stadt Görlitz ein, als er bei der offenen Klosterkirche vorbeikam, läutete eben das Minoritenglöcklein zur Messe, der fromme Jüngling trat in die heiligen Räume, legte in einer Ecke der Kirche sein Ränzlein ab, knieete nieder und betete inbrünstig. Da überfiel ihn eine plötzliche Müdigkeit, er lehnte seinen Kopf an eine nahe Bank und schlief ein. Als die fromme Handlung vorüber war und Alles die Kirche verließ, schloß der Pförtner, der den Schlafenden nicht bemerkt hatte, die Kirchentüren. Der junge Mann erwachte erst gegen Mitternacht und erschrack nicht wenig, als er sich in tiefer Finsterniß ganz mutterseelenallein in der öden Kirche wiederfand. Er sprang auf und näherte sich der ewigen Lampe, welche auf dem Hochaltar brannte, um wenigstens in der schauerlichen Einsamkeit etwas sehen zu können; da hörte er auf einmal schlürfende Schritte aus der Ferne kommen, er versteckte sich daher eilig in einen der gothischen Chorstühle, welche den Altarplatz umgaben, und kaum hatte er sein Versteck erreicht, da öffnete sich ihm gegenüber die eiserne Tür, welche die Kirche mit dem Minoritenkloster (daraus ward nach der Reformation ein Gymnasium gemacht, das aber 1853 weggerissen ward um dem neuen Schulhaus Platz zu machen) verband. Heraus trat aber ein Mönch, dessen häßliche Züge eine Blendlaterne hell beleuchtete; er schleppte eine schlanke Frauengestalt, die offenbar nicht mehr am Leben war, an ihren langen blonden Locken hinter sich her und klapperte dabei recht unheimlich mit seinen Holz- oder Klötzelpantoffeln. Vor dem Altar angekommen, arbeitete er eine Steinplatte aus dem Fußboden heraus und ließ den Leichnam, den das darauf fallende Licht der Blendlaterne jetzt als den eines schönen jungen Mädchens kennzeichnete, hinab in die Tiefe, schloß dann die Platte wieder und verließ mit demselben schlürfenden Gange die Kirche wieder.

Dem Handwerksburschen zitterten ob diesem grausigen Anblick alle Glieder, er mußte jedoch ruhig ausharren, bis die Türn zur Frühmesse geöffnet wurden, da schlich er sich unbemerkt hinaus und glaubte, es habe ihn ein böser Traum geäfft. Allein auf der Herberge angelangt, hörte er, daß man seit gestern die schöne Tochter einer armen Wittwe vermisse, die in die Messe gegangen, aber von da nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war. Da begab er sich flugs zum Bürgermeister und erzählte, was er in der vorigen Nacht erlebt hatte. Dieser ließ sofort die Kirche und das Kloster mit Wachen umstellen, den Handwerksburschen in die Kirche führen und dort durch diesen die Steinplatte suchen. Dieselbe war bald gefunden, man hob sie in die Höhe, stieg in die Gruft hinab und fand dort die Vermißte als Leichnam. Nun wurde das Mönchscapitel versammelt und leicht fand der Handwerksgesell unter den zitternden Mönchen den heraus, dessen häßliche Züge ihn in der vorigen Nacht so erschreckt hatten. Derselbe gestand nun, daß er das Mädchen in seine Zelle gelockt, dort gemißbraucht, dann ermordet und in der Mitternachtstunde am Altar der Klosterkirche verscharrt habe. Seine Strafe war die, lebendig eingemauert zu werden. Aber seine Seele hatte keine Ruhe, sowohl im Kloster als in den dazu gehörigen Gebäuden hörte man ihn oft auf seinen hölzernen Schlapppantoffeln herumklappern, noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erschreckte er einen Barbierjungen, der sich in den Kreuzgängen des Klosters verlaufen hatte, so mit seiner Blendlaterne, daß derselbe am andern Tage gestorben ist. Erst nachdem man zu Anfange dieses Jahrhunderts beim Wegreißen des zu den »drei Eichen« gehörigen, mit dem Kloster verbundenen Gebäudes seine eingemauerten Gebeine fand und in geweihter Erde begrub, hat er sich nicht wieder sehen lassen. Das Bild des Mönchs aber und das der ängstlich nach ihrer Tochter ausschauenden Mutter ließ ein Görlitzer Bürger an dem Hause, wo das Mädchen gewohnt hatte, anbringen.

Von diesem Minoritenkloster führte übrigens der Sage nach ein unterirdischer Gang nach der Landskrone, einmal drangen drei Schüler hinein, gingen eine Viertelstunde weit darin fort, kamen aber dann an eine eiserne Tür, die sie nicht zu öffnen vermochten. Später ward der Eingang vermauert.

Der Mann mit dem Krug

Wenn man über die Neissebrücke nach Görlitz kommt, und die Neissegasse hinaufgeht, sieht man an der Ecke des einen Hauses, zwischen dem zweiten und dritten Stocke zwei Männer abgebildet, welche einen großen Wasserkrug in der Hand halten. Ueber die Bedeutung dieses Bildes circuliren aber verschiedene Sagen. Nach der einen sei einmal die Neisse so angeschwollen gewesen, daß sie von Görlitz bis Rothenburg das breite Bette gebildet habe, welches man jetzt die Aue nennt, in der Neissegasse sei aber das Wasser so hoch gestiegen, daß jene zwei Männer aus dem Fenster des dritten Stocks sich hätten einen Krug voll Wasser schöpfen können. Andere erzählen, das Bild solle zwei Trunkenbolde darstellen, die an dieser Stelle vom Blitz erschlagen worden wären. Eine dritte Sage berichtet, es seien einmal zwei Böttchermeister ohne Wissen ihrer Frauen nach Prag gegangen um das dortige Weißbier zu kosten, und mit einem Kruge voll zurückgekommen.

Die große Linde auf dem Nicolaikirchhof

Auf dem Nicolaikirchhofe zu Görlitz steht eine ungeheuere Linde, von deren Entstehung man folgende Sage hat.

In der Sechsstadt Görlitz herrschte ehedem ein sehr strenges Regiment, namentlich hatten die Diebe und Stegreifritter stets sofort bei ihrer Ergreifung den Galgen als Lohn ihrer unerlaubten Tätigkeit zu erwarten. So hatten sie denn einstmals auch einen armen Knappen gefangen und auch ihn für mitschuldig an der Ruchlosigkeit seines Herrn angesehen. Indeß leugnete er frischweg Alles, was man ihm Schuld gab, und blieb selbst, nachdem man ihm die Daumschrauben angelegt, um ein Geständniß von ihm zu erpressen, fest dabei, daß er unschuldig sei. Dies half ihm aber Alles nichts, er ward verurteilt gehenkt zu werden. Als er nun auf seinem letzten traurigen Gange vor dem Nicolaikirchhofe vorbeikam, wo seine Eltern lagen, denn er war ein Görlitzer Stadtkind, da fiel es ihm schwer aufs Herz, daß er so unschuldig sterben solle, und er wollte mit Gottes Beistand ein Zeugniß hinterlassen, daß ihm Unrecht geschehen sei. Er bat also den Henker, er möge ihm doch noch an dem Grabe seiner Eltern ein Vaterunser beten lassen. Dies schlug ihm derselbe auch nicht ab, sondern ließ ihn durch seine Knechte bis an den Grabhügel derselben begleiten, hier fiel er auf seine Kniee, betete, und riß dann ein kleines Lindenbäumchen, welches dort stand, mit der Wurzel aus der Erde und pflanzte es verkehrt wieder ein, so daß die Wurzeln als Zweige in die Höhe standen, die bisherigen Zweige aber mit Erde bedeckt wurden. Darauf rief er: »So wahr dies Bäumchen aus den Wurzeln Zweige und aus den Zweigen Wurzeln treiben wird, so gewiß werde ich unschuldig hingerichtet.« So geschah es, das Bäumchen wuchs zum mächtigen Baume heran und giebt heute noch Zeugniß von diesem furchtbaren Gottesgericht.

Der Denkstein am Weinberg

Sonst stand an dem sogenannten Weinberge bei Görlitz ein steinernes Kreuz, welches aber bei der Anlegung der Kunststraße nach Leschwitz entfernt worden ist. Dasselbe sollte zur Erinnerung folgender merkwürdigen Begebenheit dienen.

Ein Schlosser zu Görlitz hatte einen einzigen Sohn, allein dies hinderte ihn nicht, da er ein sehr wohlhabender Mann war, nebenbei noch zwei arme Waisen, einen Knaben und ein Mädchen an Kindesstatt anzunehmen und selbige mit ersterem aufzuziehen. Die beiden Knaben erlernten beide das Schlosserhandwerk und als sie zu Gesellen gesprochen waren, zogen sie beide in die Fremde, der Meisterssohn wollte in Deutschland bleiben, das Waisenkind aber nach Frankreich ziehen. Beim Abschiede machten sie jedoch unter sich aus, sie wollten nach Ablauf von drei Jahren an einem gewissen Tage in einer Schenke zwischen Zittau und Ostritz zusammentreffen und dann selbander in Görlitz einwandern. Beide Burschen trugen aber in ihren Herzen eine heimliche Sehnsucht nach ihrer zurückgebliebenen Pflegeschwester und Jeder hoffte sie nach seiner Rückkehr die seine nennen zu können. So vergingen die drei Jahre, Beide arbeiteten fleißig, nur mit dem Unterschiede, daß der Meisterssohn, was er verdiente, hinlegte und für seine zukünftige Wirthschaft zusammensparte, sein Pflegebruder aber, der sich in Paris auf die lockere Seite gelegt hatte, schnell Alles, was er die Woche über erarbeitet, Sonntags wieder durchbrachte. Am bestimmten Tage trafen indeß beide wieder zusammen und erzählten sich einander ihr Erlebtes, der Meisterssohn aber teilte seinem Bruder mit, daß, sowie er nach Hause zurückgekehrt sein werde, sein Vater ihm die Werkstatt übergeben und seine Pflegeschwester ihm ihre Hand reichen werde. Da zog der Teufel der Eifersucht und Mißgunst in das Herz seines unglücklichen Bruders ein; als sie spät auswandernd gerade um die 12. Stunde in die Nähe der sogenannten Weinberge kamen, versetzte letzterer ersterem von hinten einen Schlag mit seinem mit Eisen beschlagenen Wanderstab auf den Hinterkopf, der ihn lautlos zu Boden streckte. Er höhlte eine tiefe Grube in dem lockern Sandboden aus, warf den Ermordeten hinein, dann Steine auf ihn und zuletzt einen großen Haufen Erde und Sand, womit er alle Spuren des Mordes vertilgte. Hierauf wanderte er in Görlitz ein, als wenn nichts geschehen wäre, und nachdem die sorgenvollen Eltern und die bekümmerte Braut einige Jahre auf ihren ermordeten Sohn gewartet, kamen sie zu der Ueberzeugung, er müsse verunglückt sein, sie nahmen also den Mörder wirklich an Kindesstatt an und die Braut des Ermordeten reichte ihm ihre Hand am Altare. So lebte er an die dreißig Jahre als ein angesehener und geachteter Bürger zu Görlitz, da geschah es eines Tages, daß er in einer Dezembernacht, wie er meinte, früh 1/26 Uhr nach seiner Gewohnheit erwachte um in der Peterskirche der Frühmesse beizuwohnen. Er ging wie gewöhnlich nach der Kirche zu, als er aber an der Tür derselben anlangte, schlug auf einmal die Glocke Zwölf und während er noch darüber nachsann, wie es überhaupt gekommen, daß er sich so in der Zeit geirrt habe, fiel ihm ein, daß der heutige Tag gerade der 30. Jahrestag sei, wo er zur selbigen Stunde seinen Bruder gemordet habe. Er eilte wie von Furien gejagt nach Hause, allein am andern Morgen kamen Scharwächter, um ihn gefangen zu nehmen, es war nämlich in derselben Nacht ein frecher Diebstahl an den heiligen Geräthschaften der Peterskirche verübt worden, und weil Fußtapfen in dem Schnee, der vorher gefallen war, nach seinem Hause führten, war man auf den Verdacht gekommen, er sei der Thäter. Vor Gericht gestellt erklärte er, hieran sei er unschuldig, allein dafür bekenne er sich schuldig an dem vor 30 Jahren begangenen Morde; er führte die Richter selbst nach der Stelle, wo er seinen Bruder eingescharrt hatte und wo man dessen Gebeine noch fand. Er ward zum Tode verurteilt und an dem betreffenden Orte hingerichtet, jener Denkstein aber bezeichnete noch lange die grausige Stelle und die Wahrheit des alten Satzes, daß kein Verbrechen ungerächt bleibt und dem Auge Gottes kein Sünder entgehen kann.

Original: Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des preußischen Staates

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